Nationaler Aktionsplan zur Steigerung der Gesundheitskompetenz vorgestellt

Jedem Zweiten fällt es schwer, gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen, zu nutzen oder auf die eigene Lebenssituation anzuwenden, um beispielsweise im Falle einer gesundheitlichen Beeinträchtigung die passende Hilfe ausfindig zu machen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Bielefeld.1

Experten aus Wissenschaft und Praxis haben deshalb einen Nationalen Aktionsplan  Gesundheitskompetenz (Schirmherr: Bundesgesundheitsministerium) entwickelt und im Februar dieses Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt. Vier Handlungsfelder mit 15 konkreten Empfehlungen sowie Prinzipien für deren Umsetzung sollen die Gesundheitskompetenz auf allen Ebenen fördern und stärken.2

Was ist Gesundheitskompetenz?9

Definition gemäß European Health Literacy Consortium18

„Gesundheitskompetenz … umfasst das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheits- bewältigung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die ihre Lebensqualität während des gesamten Lebensverlaufs erhalten oder verbessern“

Während seiner Entstehungsphase wurde der Aktionsplan mit unterschiedlichen Interessengruppen breit diskutiert, so auch mit Patienten- und Bürgervertreten. Das merkt man ihm an und es tut ihm gut. In diesem Beitrag sind die wichtigsten Punkte mit Relevanz zur Diabetes-Selbsthilfe zusammengefasst. Viele Beispiele zeigen die Bedeutung und die Notwendigkeit der Selbsthilfe für die Stärkung der Gesundheitskompetenz. Und: Forderungen, die wir als Diabetes-Selbsthilfe ausdrücklich so unterstützen, sind enthalten. Wir hoffen, dass mit dem vorliegenden Aktionsplan der Patientenvertretung die nötige Aufmerksamkeit in der Politik bekommt, die ihr zusteht.

Gesundheitskompetenz ist gesellschaftliche Aufgabe3

Wie stark die Gesundheitskompetenz eines Menschen ausgeprägt ist, hängt nicht nur von seinen individuellen Fähigkeiten ab, sondern wird auch in einem hohen Maße von seinen Lebensumständen und-verhältnissen bestimmt. Will man etwas ändern, müssen beide Aspekte berücksichtigt werden.

Das Bildungssystem liefert viele Ansatzpunkte, um die Gesundheitskompetenz zu fördern (Empfehlung 1). Hier bedarf es einer abgestimmten Strategie, wie die Förderung von Gesundheitskompetenz im Alltag von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen verankert werden kann. „Die Zunahme der Gesundheitskompetenz in Bildungseinrichtungen käme nicht nur der Aufklärung und Prävention zugute. Hier habe ich auch die Umsetzung des Inklusionsgesetzes an Kitas und Schulen im Auge,“ kommentiert Elke Brückel, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der DDF.

„Neben der Forderung nach vollwertigem Essen und Trinken in Kitas und Schulen wäre es wünschenswert, das Thema Ernährung als Bildungsziel in die Leitlinien und Lehrpläne aufzunehmen“, ergänzt Dr. Klaus Warz, Vorstandsvorsitzender der DDF.

Der Umgang mit Konsum- und Ernährungsangeboten ist ebenfalls ein wichtiger Stellhebel (Empfehlung 3). Die Fülle an Produkten mit unverständlichen Inhaltsangaben macht es den Verbrauchern schwer, die richtigen Entscheidungen für eine gesunde Lebensführung zu treffen. Im Aktionsplan werden daher klare gesetzliche Regeln für transparente Gesundheitsinformationen gefordert. Dr. Warz teilt diese Position: „Die Empfehlungen treffen genau ins Schwarze. Die Lebensmittel-Ampel muss ebenso durchgesetzt werden wie die Zuckerabgabe der Lebensmittelproduzenten. Es ist höchste Zeit.“

Unser Gesundheitssystem ist noch nicht nutzerfreundlich4

Wenn wir über Gesundheitskompetenz sprechen, kommt dem Gesundheitssystem eine zentrale Rolle zu. Doch es ist sehr komplex und unübersichtlich. Die Nutzer benötigen Unterstützung bei der Orientierung. Gesundheitskompetenz soll auf allen Ebenen als Standard verankert werden (Empfehlung 6). Dies stellt durchaus Herausforderungen für die Gesundheitsberufe (Pflege, Physiotherapeuten, Ärzte) dar, die nötigen Rahmenbedingen müssen geschaffen werden.

Unverständliche Sprache, Zeitmangel, ein Vergütungssystem, das die „sprechende Medizin“ nicht im erforderlichen Maße honoriert: Längst ist bekannt, dass Verständigungsprobleme den Behandlungsverlauf negativ beeinflussen oder gar die Patientensicherheit gefährden können. Kommunikation muss an den Wissenstand der Erkrankten angepasst sein (Empfehlung 8). Das stellt hohe Anforderungen an die Kommunikations- und Vermittlungskompetenz der Gesundheitsberufe und erfordert eine starke Patientenorientierung.

Die Gesundheitskompetenz in allen Lebenswelten fördern

  1. Das Erziehungs- und Bildungssystem in die Lage versetzen, die Förderung von Gesundheitskompetenz so früh wie möglich im Lebenslauf zu beginnen
  2. Die Gesundheitskompetenz im Beruf und am Arbeitsplatz fördern
  3. Die Gesundheitskompetenz im Umgang mit Konsum- und Ernährungs-angeboten stärken
  4. Den Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien erleichtern
  5. Die Kommunen befähigen, in den Wohnumfeldern die Gesundheitskompetenz ihrer Bewohner zu stärken

Das Gesundheitssystem nutzerfreundlich und gesundheitskompetent gestalten

  1. Gesundheitskompetenz als Standard auf allen Ebenen im Gesundheitssystem verankern
  2. Die Navigation im Gesundheitssystem erleichtern, Transparenz erhöhen und administrative Hürden abbauen
  3. Die Kommunikation zwischen den Gesundheitsprofessionen und Nutzern verständlich und wirksam gestalten
  4. Gesundheitsinformationen nutzerfreundlich gestalten
  5. Die Partizipation von Patienten erleichtern und stärken

Gesundheitskompetent mit chronischer Erkrankung leben

  1. Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren
  2. Einen gesundheitskompetenten Umgang mit dem Krankheitsgeschehen und seinen Folgen ermöglichen und unterstützen
  3. Fähigkeit zum Selbstmanagement von Menschen mit chronischer Erkrankung und ihren Familien stärken
  4. Gesundheitskompetenz zur Bewältigung des Alltags mit chronischer Erkrankung fördern

Gesundheitskompetenz systematisch erforschen

15. Die Forschung zur Gesundheitskompetenz ausbauen

Wir alle wollen Entscheidungen im Umgang mit Gesundheitsproblemen selbstbestimmt treffen. Deshalb soll für Patienten die Möglichkeit zur Teilhabe erleichtert und gestärkt werden (Empfehlung 10). Hierbei geht es nicht nur um den Behandlungs- und Versorgungsprozess („Keine Entscheidung über mich ohne mich“), sondern auch um die Wahrnehmung von Patientenrechten gegenüber den Leistungserbringern. Außerdem ist der Patient der Eigentümer der über ihn angesammelten Daten. Die Einsicht in analoge oder digitale Patientenakten oder Pflegedokumentationen soll ohne Hürden gewährleistet sein.

Dr. Warz zum Thema Teilhabe: „Unsere Patientenvertreter verfügen über Wissen und Kompetenz im Umgang mit ihrer chronischen Erkrankung. Das Gesundheitssystem könnte ohne die ehrenamtlichen Leistungen der Selbsthilfe nicht in der heutigen Qualität existieren. Deshalb fordert der Runde Tisch Diabetes zu Recht ein eigenes Stimmrecht der themenbezogenen Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss und ist dazu im Bunde mit den Diabetologen!“

Für Menschen mit chronischen Erkrankungen ist Gesundheitskompetenz besonders wichtig6

Weltweit nehmen chronische Erkrankungen zu, in Deutschland ist ein Drittel der Bevölkerung betroffen. Auch bei den Diabetespatienten ist eine Zunahme prognostiziert.

An diese Menschen werden hohe Anforderungen an ihre Gesundheitskompetenz und das Selbstmanagement gestellt, besonders bei Mehrfacherkrankungen. Herausforderungen liegen in der richtigen Nutzung des Gesundheitssystems oder in der Entscheidung über die geeignete Versorgungs- und Behandlungsstrategie. Deshalb ist die Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung zu integrieren (Empfehlung 11).

Die Versorgung muss sich im gesamten Lebensverlauf an der individuellen Situation orientieren. Sie zeichnet sich durch Kontinuität aus und soll neben den körperlichen auch besonders den lebensweltlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen entsprechen und zum Erhalt der Autonomie beitragen. Um auch im hohen Alter und in späten Krankheitsphasen informierte Entscheidungen treffen zu können, müssen Kommunikation und Information verbessert werden. Das Ziel ist unnötiges Leid zu vermeiden und eine gute Lebensqualität zu erhalten. Dazu Elke Brückel, stellvertretende Vorstandsvorsitzende DDF: „Die intensivierte Insulintherapie oder die Insulinpumpen­therapie müssen für ältere Menschen mit Diabetes gesichert sein. Das gilt auch für die Unterstützung beim Selbstmanagement und die Versorgungsqualität durch genügend qualifiziertes Fachpersonal.“

Umsetzungsprinzipien9

Grundlegende Prinzipien für die Umsetzung der Empfehlungen in gute Praxis

  1. Soziale und gesundheitliche Ungleichheit verringern
  2. Sowohl die individuellen als auch die strukturellen Bedingungen verändern
  3. Partizipation und Teilhabe ermöglichen
  4. Chancen der Digitalisierung nutzen
  5. Die Kooperation von Akteuren aus allen Bereichen der Gesellschaft herstellen

Für chronisch erkrankte Personen stellt das Selbstmanagement eine wichtige Aufgabe dar (Empfehlung 13), schließlich sind immer wieder Anpassungsprozesse zu bewältigen oder Verluste an Lebensqualität zu verarbeiten. Auch an dieser Stelle kommt der Selbsthilfe eine bedeutende Rolle zu. Die Autoren schlagen vor, die Strukturen der Selbsthilfe zu stärken und hauptamtliches Personal in Methoden der Förderung von Gesundheitskompetenz zu qualifizieren und einzusetzen. Lernangebote und praktische Hilfen zum Selbstmanagement (Checklisten, Planungshilfen, Entscheidungshilfen) sind dafür wichtige Ergänzungen. Es gilt die Gesundheitskompetenz in den Alltag (Wohnen, Einkaufen, Arbeiten, Freizeit) chronisch erkrankter Menschen zu integrieren (Empfehlung 14), Familien und Freunde einzubeziehen sowie dem Thema mehr öffentliche Wahrnehmung zu verschaffen.

Die positiven Effekte der aktiven Betreuung von Menschen mit Diabetes durch die Diabetes-Selbsthilfe werden durch die SHILD-Studie bestätigt. Dieser Personenkreis besitzt eine höhere Adhärenz, sich therapiegerecht zu verhalten, ist besser aufgeklärt und erleidet weniger diabetesbedingte Komplikationen.7


Quellen:

  1. Schaeffer D., Vogt D., Berens E.-M., Hurrelmann K.: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergebnisbericht 2016. Im Internet: www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag6/downloads/Ergebnisbericht_HLS-GER.pdf; Stand: 15.11.2017
  2. Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U. und Kolpatzik, K. (Hrsg.): Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin: KomPart 2018.
  3. ebenda, vgl. S. 14, 31-37
  4. ebenda, vgl. S. 38-45
  5. ebenda, vgl. S. 45-49
  6. ebenda, vgl. S. 50 f
  7. Seidel G, Haack M, Kramer S, Dierks M-L. Wirkungen gesundheitsbezogener Selbsthilfe bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Deutsche Diabetes Föderation, DiabetesJournal 1-2018: 41-42.
  8. Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U. und Kolpatzik, K. (Hrsg.): Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken. Berlin: KomPart 2018, S. 56-57
  9. ebenda, S. 52-55
  10. ebenda, vgl. S. 13 mit Verweis auf: Sørensen K., Van den Broucke S., Fullam J., Doyle G., Pelikan J. M., Slonska Z., Brand H., HLS-EU Consortium: Health Literacy and Public Health: A Systematic Review and Integration of Definitions and Models. BMC Public Health 2012;12(1):1–13.