Kinder mit Diabetes im ÖPNV stigmatisiert

Wenn Kinder mit Typ-1-Diabetes als anerkannt schwerbehinderte Menschen im ÖPNV ihren Anspruch auf unentgeltliche Beförderung zur Schule (§ 228 Absatz 1 SGB IXin Anspruch nehmen wollen, müssen sie regelmäßig auch ihren Behindertenausweis vorzeigen, auf dem eine entsprechende Wertmarke aufgeklebt ist. Hier zur Veranschaulichung der Gesetzes-Text:

§ 228 Unentgeltliche Beförderung, Anspruch auf Erstattung der Fahrgeldausfälle

(1) Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Absatz 5 im Nahverkehr im Sinne des § 230 Absatz 1 unentgeltlich befördert; die unentgeltliche Beförderung verpflichtet zur Zahlung eines tarifmäßigen Zuschlages bei der Benutzung zuschlagpflichtiger Züge des Nahverkehrs. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. 

Wie bereits in einer der letzten Ausgaben des Diabetes-Journals berichtet, hat die Deutsche Diabetes Föderation auf Veranlassung von Betroffenen in einer Initiative gegenüber der Bundesregierung darauf hingewiesen, dass dies in der Praxis zu einer Stigmatisierung und damit auch zu einer weiteren Diskriminierung von Kindern mit Diabetes führt. Denn allzu oft werden diese Kinder bei der Kontrolle der Fahrkarten oder auch von anderen Kindern nach dem Grund dieser gefühlten „Sonderbehandlung“ gefragt. Viele sehen sich dann veranlasst, offenzulegen, welche Art der Erkrankung diesen Behindertenausweis rechtfertigt. Nicht selten kommt dann der Kommentar: „Wieso bist Du behindert – Du siehst doch gar nicht behindert aus?“ Und das ist noch die am wenigsten kritische Formulierung, es gibt auch andere, die wir hier nicht zitieren wollen. Mit diesen Bemerkungen verbunden ist nach dem Eindruck der Betroffenen regelmäßig auch der unterschwellige Vorwurf, dass sich diese Kinder mit der Nutzung des Behindertenausweises einen Vorteil erschleichen, weil sie doch eigentlich unter gar keiner sichtbaren Einschränkung leiden. Dies muss nach Auffassung der Betroffenen und ihrer Eltern gestoppt werden.

Die DDF hat sich dieses Themas nun angenommen und im Dezember 2023 zunächst zwei zuständige Stellen informiert und um Abhilfe gebeten: den „Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen“, Jürgen Dusel, und den „Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit“, Prof. Ulrich Kelber.

Zunächst passierte nichts – erst auf Nachfragen über unsere Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAG SH) im März bekamen wir dann kurz hintereinander von beiden Stellen erste Antworten.

Verständnis und ein starkes Stück

Während der Datenschutzbeauftragte das Problem klar erkennt und richtigerweise erläutert, dass die Kenntnisnahme und Verarbeitung sensibler, personenbezogener Gesundheitsdaten durch Unternehmen des ÖPNV gemäß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b DSGVO zulässig sind, also z. B. die Einsicht des Busfahrers in den Behindertenausweis diabetischer Kinder, hat der Behindertenbeauftragte das Problem nicht mal ansatzweise erkannt. Er lässt sinngemäß ausrichten, dass man das Problem der Stigmatisierung und Diskriminierung ja einfach dadurch umgehen kann, indem man von seinem Recht auf kostenlose Beförderung im ÖPNV einfach keinen Gebrauch macht. Wörtlich schreibt er:

„Wenn sich ein Jugendlicher mit dem Schwerbehindertenausweis nicht wohlfühlt, können er bzw. seine Eltern auch eine reguläre Schülerfahrkarte kaufen wie andere Jugendliche auch.“

Zur Ehrenrettung des Behindertenbeauftragten muss man jedoch ergänzen, dass diese Empfehlung nicht von ihm selbst stammt, sondern aus einer Fachabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von Hubertus Heil – dem wir eigentlich eine etwas sensiblere Auseinandersetzung mit Problemen von Menschen mit Behinderung zugetraut hätten.

Der Datenschutzbeauftragte wird konkret:

„Nichtsdestotrotz sehe ich die Problematik, der die Betroffenen ausgesetzt sind, da im Rahmen der Kontrolle auch unbeteiligte Dritte Kenntnis über die Schwerbehinderteneigenschaft erlangen können.“

Er sagt uns zu, eine Anpassung des SGB IX im Hinblick auf eine datenschutzfreundlichere Ausgestaltung in der Praxis anzugehen und macht auch gleich praktische Vorschläge. Ein Erfolg, wenn es denn passiert!

Der Behindertenbeauftragte hingegen beschränkt sich darauf, in Gesprächen mit der Deutschen Bahn und den Auftragnehmern des ÖPNV auf die Belange von Menschen mit Behinderungen hinzuweisen. Wörtlich schreibt er: „Trotz aller Bemühungen der Unternehmen kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden, dass es im Alltag durch unangemessenes Auftreten ihrer Belegschaft zu Beleidigungen und Diskriminierungen kommt.“

Unsere Bewertung der Antwort des Behindertenbeauftragten: Thema komplett verfehlt, setzen, Note 6!

Was tun wir nun weiter?

Erstens greifen wir die Vorschläge des Datenschutzbeauftragten auf und werden uns für eine Anpassung der entsprechenden Vorschriften im Sozialgesetzbuch starkmachen, mit konkreten Vorschlägen. Zweitens fragen wir weiter, ob es tatsächlich die Haltung der Bundesregierung ist, Menschen mit Behinderung zu raten, bei den ersten Schwierigkeiten von der Geltendmachung ihrer gesetzlichen Rechte abzusehen.

Wir bleiben dran!

LEONHARD STÄRK, VORSITZENDER DDF e. V.