Mangel an Fachkräften:
Kann KI die Lücke schließen?
Die Spatzen pfeifen es seit Jahrzehnten von allen Dächern: Bis zum Jahr 2050 wird ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. In der Folge gilt es, künftig immer mehr Menschen mit alterstypischen und chronischen Erkrankungen zu behandeln. Besonders dramatisch ist der erwartete Zuwachs von 54 bis 77 Prozent bei den Diabetes-Erkrankungen. Dem stehen fehlender fachärztlicher Nachwuchs bei den Diabetologinnen und Diabetologen gegenüber und ein ebenso alarmierendes Nachfolgeproblem bei den hausärztlichen Praxen. Doch wie können angesichts dieser auseinanderdriftenden Schere die notwendige Versorgung, Vorsorge und Prävention sichergestellt werden?
Das Gesundheitssystem steht vor großen Reformen, wie der Krankenhausreform, der Sicherung der ambulanten Versorgung oder dem Ausbau der Telemedizin. Zudem gehen Experten wegen des Ärzteund Fachkräftemangels in den nächsten Jahren von einer neuen Aufgabenverteilung hin zu nicht ärztlichen Berufsgruppen aus. Digitalisierung lautet die nächste Großbaustelle im Gesundheitswesen. Hier wird der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Datenanalyse eine wichtige Rolle spielen. Ein gutes Beispiel in der Versorgung von Menschen mit Diabetes ist die regelmäßige Vorsorgeuntersuchung auf eine diabetische Retinopathie, also die Schädigung der Netzhaut, durch Screening unter Einsatz von KI.
Retinopathie-Screening
Mit der steigenden Zahl der Menschen mit Diabetes steigt auch der Bedarf an Vorsorgeuntersuchungen bezüglich der diabetischen Retinopathie.
Doch wie sollen die augenärztlichen Praxen diesem Zuwachs zukünftig gerecht werden? Liegt die Lösung darin, möglichst viele Diabetespatientinnen und -patienten einem Retinopathie-Screening mit KI zu unterziehen und nur die Verdachtsfälle an eine augenärztliche Praxis zu überweisen, um dort den Vorab-Befund zu überprüfen und zu bewerten?
Die großen Fortschritte, die in den letzten Jahren in der Bildgebung (bildliche Darstellung von Körperstrukturen in der Medizin) in der Augenheilkunde stattfanden, könnten der Schlüssel dafür sein. Eine Fundus-Kamera erstellt digitale Fotos des Augenhintergrunds, die seitens der Anwendenden einfach erstellt und direkt mittels KI ausgewertet werden können. Die Vorteile für Patientinnen und Patienten sind sofort erkennbar, denn das lästige Erweitern der Pupillen durch Tropfen entfällt und die Fahrtauglichkeit bleibt unmittelbar nach einer solchen Untersuchung erhalten.
Screening auch bei Diabetologen oder Optikern?
Die Entscheidung für den Einsatz künstlicher Intelligenz für das Screening auf eine diabetische Retinopathie ist im Diabetes Zentrum Mergentheim schon gefallen.
Dort sammelt man bereits Erfahrungen mit dem System und der Qualität der Ergebnisse.
Sofern das System KI-basiert ist und die Technik bereitsteht, könnte das Screening künftig auch in Diabetespraxen durchgeführt werden, zum Beispiel im Rahmen der Regelversorgung durch die Disease-Management-Programme (DMPs). Um einem breiten Kreis von Menschen mit Diabetes diese Option zu eröffnen, wäre eine enge Kooperation mit Filialen größerer Geschäfte für Augenoptik wünschenswert. Die Kooperation könnte die Kompetenz in der Untersuchung mittels KI verbessern und die Wirtschaftlichkeit der Investitionen in Höhe von ca. 25 Tausend Euro absichern.
Unter Mitwirkung der Krankenversicherungen könnten Rahmenverträge die Basis für die notwendige Zusammenarbeit mit regionalen Augenarztpraxen bilden. Jedoch können Augenoptiker eine sich anknüpfende Diagnose und Behandlung durch einen Augenarzt oder eine Augenärztin nicht ersetzen. „Die Früherkennung der diabetischen Retinopathie ist für Menschen mit Diabetes so wichtig, da sie direkte Rückschlüsse auf eventuell weitere diabetische Folgeerkrankungen zulässt. Sie muss als ein niedrigschwelliges Angebot für die 8 Millionen Diabetesbetroffenen zugänglich sein. Wartezeiten von sechs bis zwölf Monaten für eine Diabetesuntersuchung am Auge sind keine Option.
Wir müssen alle Angebotsmöglichkeiten der Digitalisierung und KI nutzen – auch wenn dies verständlicherweise nicht allen in der Ärzteschaft gefallen wird“, vermutet DDF-Vorstandsvorsitzender Dr. Klaus-Dieter Warz. „Aber am Ende muss die Gesundheit aller Patientinnen und Patienten im Vordergrund stehen.“
Weiterführende Informationen
DDF-Broschüre „Diabetes und Auge“
Diabetes-Erkrankungen jeden Typs können die Gesundheit der Augen auf Dauer ernsthaft gefährden und zur Entwicklung vor allem zweier Krankheitsbilder beitragen: der diabetischen Retinopathie und des diabetischen Makulaödems. Hierüber informiert die DDF-Informations-Broschüre „Diabetes und Auge“.
» www.ddf.de.com/broschuere-diabetes-und-auge
Diabetische Retinopathie
Unter diabetischer Retinopathie (dRP) werden Veränderungen an der Netzhaut verstanden, die sich infolge eines Diabetes entwickelt haben. Bei einem lange bestehenden Diabetes oder lange unbefriedigenden Blutzuckerwerten kommt es im Fall der diabetischen Retinopathie zu Gefäßveränderungen und Durchblutungsstörungen der Netzhaut, die bei fortschreitender Erkrankung zu starken Blutungen und nicht zurückbildbaren (irreversiblen) Schäden an der Netzhaut führen.
Diabetisches Makulaödem
In jedem Stadium der diabetischen Retinopathie kann ein diabetisches Makulaödem auftreten: Flüssigkeits-Ansammlungen (Ödeme) führen dabei zu Schwellungen der Netzhaut im Bereich der Makula, der Stelle des schärfsten Sehens. Regelmäßige Kontrollen der Augen sind daher für Menschen mit Diabetes besonders wichtig, um die ersten Anzeichen der Erkrankung frühzeitig zu erkennen und Komplikationen möglichst zu verhindern.
Pro Retina (Selbsthilfe)
Menschen mit einer Degeneration der Netzhaut finden umfangreiche Informationen bei Pro Retina. Die Internetseite der Selbsthilfe-Vereinigung bietet Simulationen, die „einen Eindruck vermitteln, wie Menschen mit Netzhauterkrankungen die Welt sehen und wie sich Netzhauterkrankungen auf die Wahrnehmung von Betroffenen auswirken“. Im wahrsten Sinne des Wortes sehenswert!
QUELLENANGABEN
Diabetes Journal, Ausgabe September 2023